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Helga Tiebelgestorben am 11. Mai 2020

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Ein Aufruf

Dies ist ein Aufruf - ein Aufruf, nicht zu lange zu warten.
Womit?
Im Grunde mit allem, denn das Leben ist endlich, unsere Zeit begrenzt und kostbar.
Doch ich meine etwas Konkretes.
Dies ist ein Aufruf, nicht zu lange zu warten, denn irgendwann ist es zu spät.
Ich spreche in Rätseln – was meine ich also?

Wenn meine Oma erzählte, hörte ich zu – mal mehr mal weniger.
Ich meinte, viele ihrer Geschichten zu kennen, wurden sie doch zum Teil wiederholt.
Ich meinte, dass es mich gar nicht betrifft, spielten sie doch oft in der Vergangenheit, zu Zeiten und an Orten, zu denen ich keinen Bezug hatte.
Ich meinte, sie verstanden zu haben - sie und ihre Geschichte; die auch meine Geschichte ist, denn sind wir nicht verbunden?

Irgendwann wollte ich nachfragen nach den Details. Irgendwann, aber nicht heute oder morgen.
Irgendwann, wenn es weniger zu tun gab. Irgendwann, wenn keine Hobbys, Studium, Freunde, Ehrenamt oder Arbeit anstanden.
Irgendwann wollte ich mich zu ihr setzen und die Fragen stellen, die mich interessierten. Irgendwann wollte ich mich zu ihr setzen und stricken lernen – und vielleicht Stenografie. Sei doch nützlich für mein Studium sagte sie.
Irgendwann wollte ich mir mehr Zeit nehmen für sie.
Irgendwann.

Doch Zeit ist kostbar und irgendwann ist es zu spät.
Meine Oma ist gegangen, gestorben. Sie sagte, sie würde von oben auf mich aufpassen.
Und ich? Ich bin hier, zwei Jahre später und es tut immer noch weh.
Und jetzt? Jetzt versuche ich, ihre Geschichte nachzuempfinden. Ihr bewegtes Leben. Suche nach Zeitzeugen, kontaktiere Fremde und recherchiere.
Es hätte so einfach sein können – und so schön.

Dies ist ein Aufruf, ein Aufruf nicht zu lange zu warten.
Denn irgendwann ist es zu spät.